Potsdams Mitte

Ein Plädoyer für Toleranz als architektonische Idee

Potsdams Mitte ist leer. Die großflächige Entkernung der Stadt begann mit dem Luftangriff alliierter Bomber am 14. April 1945 und sie endete vorerst mit der Sprengung der Überreste von Stadtschloß und Garnisonkirche in den sechsziger Jahren. Die frühen Abriß-Architekten der DDR vollendeten nur, was die Kriegsgegner Deutschlands ganz bewußt begonnen hatten, denn auch diese zielten mit ihren Bomben nicht auf Bauten - zumindest nicht in Potsdam, wo es kaum kriegswichtige Produktionsstätten oder militärische Führungszentren gab - sondern auf die Identität, auf das Selbstbewußtsein der Bewohner. Im Krieg ist kein Platz für Toleranz. Potsdams Identität war Preußen, und Preußen war von den Nazis ideologisch vereinnahmt und mythisch verbrämt worden wie kaum ein anderes Detail deutscher Geschichte. Manches, was danach in und um Potsdam geschah, läßt sich erklären aus dem ehrlichen Bemühen, diesen unsäglichen ideologischen Ballast endlich loszuwerden - und ihn fast ohne Übergang durch einen neuen Mythos zu ersetzen. Horror vacui.

Den Schrecken vor der Leere kennen absolutistisch regierende Staatsführer offenbar nicht. Sie sehen große Plätze bevölkert von großen Menschenmengen, und da sie die jubelnden - oder wenigstens exerzierenden - Massen brauchen, brauchen sie die großen Plätze. Auch scheinen kleinteilige Viertel und von Bäumen beschattete Straßen eher gefährdet, daß sich darin Konspiration und Widerstand entwickle, als die lichten, raumgreifenden Planungen der Staatsarchitekten. Potsdams Mitte blieb nicht zufällig leer. Für den großen, repräsentativen Bau, der allein, wie in Berlin, an die Stelle des Schlosses hätte treten können, fehlte lange das Geld. Alle Staatsordnungen warben und werben mit Monumentalbauten für sich, je größer und teurer der Bau, desto erfolgreicher die Herrschaftsform, und umgekehrt. Auch Friedrich II., der für sich selbst das eher bescheidene, außerhalb fast aller Sichtachsen liegende Schloß Sanssouci baute, fand es nötig, nach dem 7jährigen Krieg das Neue Palais hinzuklotzen. Als nach knapp 40 Jahren DDR das Geld für den Potsdamer Neubau auf dem Alten Markt endlich da war und der monumentale Theaterbau - ausdrücklich so plaziert, daß zwischen ihm, dem Alten Rathaus und der Nikolai-Kirche Raum für 100 000-Mann-Demonstrationen blieb - begonnen werden konnte, wechselte die Staatsform. Daß das Neue Palais bei der nächsten preußischen Niederlage nicht geschleift wurde, verdanken wir möglicherweise auch ein wenig der Tatsache, daß Napoleon sich zum Kaiser krönen ließ, bevor er in Preußen einmarschierte. Es war unter den Herrschern, anders als unterm Fußvolk, nie üblich, sich gegenseitig die Wohnstätten einzureißen. Mit dem eigentlichen Wahrzeichen des deutschen Reichsgedankens, der Mainzer Reichskanzlei (dort wurden die deutschen Könige gekrönt), ging der Eroberer ganz so um, wie man es sich denkt: er ließ das geschichts- und symbolträchtige Gebäude bis auf den letzten Stein abtragen (noch heute streitet man sich übrigens in der rheinland-westfälischen Landeshauptstadt, welche Funktion der bejahrten Baulücke künftig zukommen soll).

Friedrichs "Fanfaronade" war Gästehaus, eines zumal, über dessen ästhetischen Wert sich streiten läßt, es lag politisch wie örtlich immer am Rande des Geschehens, deshalb steht es noch. Ganz im Gegensatz zu besagter Reichskanzlei, die einmal die Mitte einer Phalanx aus Zeughaus, Deutschhaus (Landtag) und kurfürstlichem Schloß einnahm, und auch zu Potsdams unvollendetem und schließlich abgerissenem Theaterprojekt, zwei Bauwerken, die sich darin - und nur darin - vergleichen lassen, zu einer gewissen Zeit den falschen Platz eingenommen zu haben - die "Mitte". Das geografische Zentrum ist zuallerst auch Macht-Zentrum. Politisches Machtzentrum, wo die Macht, wie im Feudalstaat, vor allem politisch begründet ist. Daß in die Mitte der Residenzstadt das Schloß gehört, ist da so klar wie, daß die Kirche in der Mitte eines Dorfes zu stehen hat. Was gehört heute in die Mitte - der Supermarkt, das Bankgebäude, die Versicherungsgesellschaft?

Hotel, Parlament oder Bürgerhaus?

Kempinski möchte hinter der wiedererrichtete Fassade des Stadtschlosses ein Hotel errichten. Der Luxusbau brächte auf jeden Fall eines: der Stadt Einnahmen aus Grundstücksverkauf und Steuern, die dem zentralen Ort angemessen sind. Der Grund und Boden zwischen Havel und Nikolaikirche ist ein Filetstück für Investoren und ein Leckerbissen für Architekten. Während eines internationalen Seminars im Frühjahr 1991 haben elf Architektenteams aus Holland, Italien und Deutschland Planungsvorschläge für Potsdams Mitte und die umliegenden Gebiete der Stadt erarbeitet. Ein Stadtschloß-Hotel lehnten die Experten jedoch übereinstimmend als "unerträgliche Banalität" ab.
Von den neun Teams, die sich zur Funktion ihrer Bauten äußern, sprechen sich drei dafür aus, ins Zentrum des Platzes das Landtagsgebäude zu stellen. Zwei schlagen vor, an dieser Stelle ein Museum zu errichten, und vier plädieren für ein Bürgerhaus, in dem sich nach der Art eines Kulturhauses viele Funktionen vereinen lassen, und in dem auch noch Platz für Gastronomie, Bibliothek und Weiterbildungseinrichtungen ist. Interessant ist, daß die letztgenannten Funktionen in etwa vom Berliner "Palast der Republik" erfüllt wurden. In dem Bau befand sich außerdem der Tagungssaal der Volkskammer, er symbolisierte damit wie kein anderer den Anspruch des Staates, "Volksherrschaft" zu sein. Daß die Realität von diesem Anspruch meilenweit entfernt war, ist ebensowenig wie die behauptete Asbestgefährdung der Grund für den geforderten Abriß. Wiederum sind Identitätsgefühl und Selbstbewußtsein, diesmal derer, die dem Staat DDR eine Existenzberechtigung zugestanden hatten, das eigentliche Ziel, und die Toleranz bleibt auf der Strecke. "Bauten sollten den Erfolg einer Staatsordnung beweisen und sie haben, wo immer sie fortbestehen, diese Aufgabe bis heute geleistet." schreibt Wolfgang Braunfels in seinem Buch "Abendländische Stadtbaukunst". (Köln 1976, S.13) Darf es denn angehn, daß ein Staat, der so kläglich verschwand, der Nachwelt seine Monumente hinterläßt?

In Potsdam hat sich diese Frage bereits erledigt, und der provisorische Theaterbau, der, fast exakt auf dem Grundriß des abgerissenen Rohbaus, hier in den letzten Wochen entstanden ist, stört nicht den Gedankenflug jener, die (das nicht viel weniger klägliche Ende des Kaiserreiches vergessend) hier am liebsten sofort wieder ein monarchistisches Monument hätten - und, da das nicht geht, nun wenigstens das Fortunaportal bis zur 1000-Jahr-Feier wiederaufbauen wollen. Wo man in Europa auch gräbt, überall findet man unter Monumenten die Reste weiterer, vergangener Monumente. Diese Orte, einmal mit sinngebenden Bauten belegt, entwickeln ein Eigenleben. Auf dem Alten Markt anstelle des Stadtschlosses etwa ein Wohnviertel zu errichten (es gab solchen Vorschlag) - welch ein Proteststurm würde sich erheben!

Der Keim der Stadtentwicklung

Die historisch belegte Geschichte des Platzes ist fast so alt wie Potsdam selbst. Markgraf Albrecht der Bär (1100-1170) begründete nach seinem Sieg über die Slawen an dieser Stelle eine Burgsiedlung. Jahrhunderte davor war es vielleicht der Ort des germanischen Thing, der Gerichts-Versammlung des Stammes. Aber das ist Spekulation. Der älteste bekannte Siedlungskern der Stadt liegt etwas entfernt: Unter den Resten der 1974 nach schweren Kriegszerstörungen abgerissenen Heiligen-Geist- Kirche am Ende der Burgstraße finden sich die Reste einer slawischen Burg, die noch aus der Völkerwanderungszeit stammen.
Die markgräfliche Burgsiedlung wurde 1599 durch ein Renaissanceschloß ergänzt, das im 17. Jahrhundert dem Memhardtschen Stadtschloß (1669 vollendet) weichen mußte. Die Lobby derer, die dieses Schloß nun, auch als eine späte Vergeltung des Preußen-Hasses zu frühen DDR-Zeiten, dem es zum Opfer fiel, wiedererrichten möchten, ist nicht klein, und sie würden dafür sogar ein Hotel hinter der Fassade in Kauf nehmen. Im Grunde genommen zu recht, stehen sie doch damit ganz in der Tradition friderizianischer Kulissen-Architektur. Was ist, wenn man schon das Wort Banalität benutzt, ein Hotel im Schloß gegen ein Pumpenhaus in der Moschee?

Der Unterschied liegt allein im Spirituellen. Im Lande Allahs wäre der Potsdamer Bau Blasphemie, und natürlich hätte kein gottesfürchtiger preußischer König es gestattet, die Dampfmaschinen-Pumpe, welche seine Wasserspiele antreibt, mit dem Gehäuse einer abendländischen Kirche zu verzieren. Der Aufschrei bei drohender profaner Nutzung einer sakralen Form setzt voraus, daß man diese als heilig akzeptiert. Sind die obengenannten Architekten also allesamt verkappte Monarchisten?

Das ist wohl unwahrscheinlich. Eher geht man heute nicht mehr so leichtfertig wie früher über den Gegensatz zwischen Form und Funktion hinweg. Welche Funktion, außer der des feudalen Schlosses, entspräche der Schloß-Form wirklich? Selbst ein Museum, wenn es nicht gerade das Schloß-Museum ist, ist besser in einem funktionalen Bau untergebracht. Doch gerade die funktionale Architektur stößt hierzulande auf massiven Widerstand, vor allem, wenn sie an die Stelle vergangener barocker Pracht gesetzt werden soll. Es scheint, als hätten Bauhaus und Moderne im Fühlen der Menschen kaum Spuren hinterlassen. Die Entartung zum windschlüpfrigen Congress-Center und zur monotonen Neubausiedlung hat offensichtlich dem Prinzip der Funktionalität weit mehr geschadet, als es die Entartung des Barock zum allgegenwärtigen Kitsch jemals tun konnte. Der Traum des Bürgers ist die Verzierung, und das müßte eigentlich ein Thema für Psychologen sein. Drückt sich darin die Sehnsucht nach einer - nur noch den Dingen vergönnten - Zuwendung aus, die von der modernen Gesellschaft nicht mehr erfüllt wird? Oder steckt dahinter noch mehr, ein Ziel- und Zukunfts-Defizit beispielsweise, das Heilung in der patriarchalischen Welt von vor 200 Jahren suchen läßt?

Neben den genannten Architektengruppen haben sich auch Brandenburgs Denkmalpfleger ziemlich einhellig gegen einen Wiederaufbau des Stadtschlosses ausgesprochen. Zitate sind dagegen teilweise sogar erwünscht: der wiederaufgenommene Grundriß, die eventuell mit Stahlskelletten angedeutete Kubatur oder sogar, ein Vorschlag von Prof. Augusto Romano Burelli, die einzelne Fassade des roten Saales zur Breiten Straße. Das große Interesse am Stadtschloß hat neben dem spirituellen einen einfachen architektonischen Grund: Es war der Keim der Stadtentwicklung. Alles, was später kam - und was heute erhalten ist, kam fast alles später - läßt sich nur in Beziehung zum Ensemble auf dem Alten Markt verstehen, dessen Mittelpunkt das Stadtschloß war. Daß an diese Stelle ein Bau gehört, der seine Zentrumsfunktion nicht nur architektonisch, sondern auch gesellschaftlich erfüllt, ist wohl selbstverständlich. Damit wird allen Fassadenträumereien zum Trotz seine Form wesentlich von seiner Funktion mitbestimmt werden, schon allein deshalb, weil erstere sich über letztere finanziert.

Auf den ersten Blick hat der Vorschlag, die Tradition des Herrschaftssitzes mit einem Parlamentsgebäude fortzusetzen, etwas Verlockendes. Im "Kreml" auf dem Brauhausberg, dem ehemaligen Bezirkssitz der SED, in dem nun der brandenburgische Landtag sein Domizil gefunden hat, stößt er auf offene Ohren - schon die Hohenzollern sind nicht gern in die Schlösser ihrer Väter gezogen, lieber haben sie sich neue gebaut. Auch Potsdams Stadtkonservator Andreas Kalesse plädiert für diese Variante. Möglicherweise ist sie die einzige, die es gestatten könnte, mit den Finanzmitteln des vereinigten Berlin-Brandenburg einen Bau zu schaffen, in dem anspruchsvolle zeitgenössische Architektur sich, bei aller Rücksichtnahme auf die ästhetischen Vorgaben der Umgebung, nicht von Historientümelei verdrängen läßt. Auch entspricht sie dem Zeitgeist: Der Tag ist absehbar, wo der Bundestag sein ständiges Domizil wieder in der Mitte Berlins aufschlägt, und die Ministerien gedenken, sich (ungeachtet wachsenden Protestes der Einwohner) neben dem Reichstag im Tiergarten niederzulassen. Andererseits: Hat sich die Bonner Legislative vierzig Jahre lang mit Provisorien, zuletzt im Wasserwerk, begnügt (der Stadt so weit entrückt wie die Potsdamer Außenstelle der Treuhand) - und nicht die Mitte der ehemaligen Bundeshauptstadt usurpiert - nur, weil Bonn selbst von vornherein als Provisorium gedacht war?

Dahinter steckte möglicherweise auch die unbewußte Erkenntnis, daß größere Ansammlungen schlipstragender Beamter samt der von ihnen bevorzugten Bauten etwas Stadtzerstörerisches an sich haben. Bonn ist, auch darin vergleichbar mit Potsdam, eine gewesene Residenzstadt. Doch im Bonner ehemals erzbischoflichen Schloß befindet sich seit langem die Universität. Nicht "Silos für Verwaltungsangestellte" gehörten in die Innenstadt, so findet unter vielen anderen auch Friedrich Mielke, in den 50er Jahren Potsdams Denkmalpfleger und jüngster Ehrenbürger der Stadt. Stattdessen "Kulturbauten, Museen, Oper und Theater".

"Haus des Volkes" und "Haus der Volksvertretung" - die beiden Funktionen trennen Welten!

Die Schönheit Potsdams als Glücksfall der Geschichte

Die Frage nach Potsdams Schönheit ist gleichzeitig auch die Frage nach der Rolle, die der Absolutismus dabei spielte. Und die Frage, welche Funktion Potsdams Mitte angemessen ist, impliziert die Frage nach der Struktur unserer Gesellschaft. Nichts davon könnte hier auch nur einigermaßen umfassend behandelt werden. Doch ist offenbar die gerade Linie vom Fürste~sitz, dem Schloß, zum Parlamentsgebäude kurzschlüssig. Die demokratische Legislative, das Parlament, ist eben nicht bloß der Nachfolger des Feudalherrschers, der zu absolutistischer Zeit noch Legislative, Exekutive und Justiz in seiner Person vereinte. Ebensowenig ist das Parlament lediglich Instrumentarium der "Volksherrschaft", griechisch Demokratie - das zeigte sich nicht nur am jüngsten Widerstand einiger Bonner Politiker gegen die plebiszitären Elemente im Brandenburger Verfassungsentwurf.
Potsdam, Sanssouci, das ganze zu recht so bewunderte Ensemble von Stadt- und Gartenbaukunst ist nicht denkbar ohne eine Staatsform, die wir heute als totalitär ablehnen. Der Große Kurfürst begann mit dem Bau des Stadtschlosses auf dem Höhepunkt des Absolutismus, im gleichen Jahr, in dem Ludwig XIV. in Frankreich seine ersten Pläne für Versaille entwickelte. Sein Sohn, der Soldatenkönig, ergänzte den Geist von Zucht und Ordnung, in dem er seine Regimenter drillte, mit einer ebenso mustergültigen Architektur in der Potsdamer Innenstadt. Das zentralistische Prinzip war auch nach der von Friedrich II. eingeleiteten Verselbständigung des Staates gegenüber seinen Dienern, unter denen er der erste sein wollte, im Prinzip ungebrochen. Erst der Parlamentarismus löste es auf, radikal (und damit den Rückfall provozierend) in der Weimarer Republik. Wer würde heute eine solche Fuchtel eines einzigen Geistes unumschränkt und unwidersprochen walten lassen, wie das zu Zeiten der Friedriche und ihrer Baumeister üblich war? Insofern ist Potsdam als kulturelle Tat unwiederholbar, mehr noch: Preußens Gloria ist ein Glücksfall der Geschichte - es hätte auch ganz anders kommen können.

Glück war, daß in der Erb-Reihe der Hohenzollern sich nicht wenige mit Kunstverstand und Intelligenz fanden. Die geistige Zeitströmung der Aufklärung hat dabei wohl eher eine bescheidene Rolle gespielt, ihr Ziel war ja nicht die Auswechslung oder gar Abschaffung des feudalen Herrschers, sondern seine humanistische Bildung. Ob der jeweilige Feudalherr aber überhaupt die Voraussetzungen für solcherart Bemühungen mitbrachte, das konnte bei der allein biologisch festgelegten Folge der Thronfolger nun mal nur ein Glücksfall sein. Vor aller Bildung und Eignung bestimmte das zufällige Zusammentreffen von Ei- und Samenzelle die Geschicke nicht nur Preußens. Die Demokratie als Staatsform setzte sich durch, als es für das Überleben der Völker zu riskant wurde, von der zufälligen Ausstattung ihrer Machthaber mit den Qualitäten abhängig zu sein, die man für diese Rolle eigentlich braucht.

Die Grund-Hypothese der parlamentarischen Demokratie, daß viele klüger handeln als ein einzelner, hat sich bisher allerdings nur in Zeiten relativer Ruhe und Friedens bewahrheitet. Eigentlich ist die Demokratie ein Luxus der Weltgeschichte. Sie ist eine Erfindung des Luxus, in dem die freien griechischen Bürger dank ihrer Sklaven zu leben vermochten, und sie funktioniert auch heute nur in einigen wenigen Staaten der Welt, die im Luxus des Friedens und wirtschaftlichen Wohlstands leben - und das zumeist auf Kosten des großen Restes. Bezeichnenderweise sind in allen demokratischen Verfassungen Möglichkeiten vorgesehen, sie im Notfall einzuschränken oder außer Kraft zu setzen. Die Rückkehr zu zentralistischen Regierungs-Prinzipien ist ein untrügliches Zeichen innerer oder äußerer Bedrohung - oder, wie im dritten Reich, für die Vorbereitung eines Krieges.

So gesehen, ist Parlamentarismus nichts anderes als die Übungs-Form, in der angehende Staats- und Wirtschaftslenker ihre Führungsqualitäten erproben können, ohne dem Land gleich Schaden zuzufügen - allerdings auch, ohne viel Positives zu bewirken. Gut, wenn das Parlament solchen Zweck erfüllt, und sich aus der Masse die fachlich und menschlich Besten wirklich emporarbeiten können. Schlecht, wenn es zur einträglichen Spielwiese für macht- und profilsüchtige Rhetoriker und Demagogen wird. Auch, wenn es in Brandenburg noch nicht ganz so weit ist, stellt sich die Frage mit aller Schärfe: ist es angemessen, den Debattier-Klub Parlament, der, wie in Bonn zu erleben, die Eigengesetzlichkeiten der Markt-Wirtschaft (wenn überhaupt) nur noch zu eigenem Vorteil und im Interesse der einflußreichen Wirtschaftslobby zu steuern versucht, ins Zentrum der Stadt zu rücken?

Ehrlicherweise, und auch nach den Gesetzen des Marktes, müßte dort das Gebäude einer Bank oder eines anderen Wirtschaftsriesen stehen - und in einigen westdeutschen Städten ist das auch so. Aber diese Lösung zerstört nicht nur gewachsene Stadtstrukturen, sie verkennt außerdem, daß die Städte ihre Funktionen mehrfach verändert haben. Schon für Friedrich II. war Architektur nicht mehr Ausdruck einer Staats-Idee, doch einer Idee allemal. Die wildwuchernden Städte sind eine Erfindung des amerikanischen 19. und des europäischen 20. Jahrhunderts und sozusagen Ausdruck einer Anti-Idee: des Vertrauens in die alles zum Besten regulierende Kraft des Marktes - ein Mythos, an den inzwischen wohl noch nicht einmal diejenigen mehr glauben, die davon profitieren. Kann jenseits der Schwelle zur Erkenntnis dieses folgenschweren Irrtums Architektur wieder einer Idee dienen? Und wenn ja, welcher?

Potsdams Mitte - Die Vision

Die Vision für Potsdams Mitte wird von einer langen Zeit der knappen Kasse ausgehen müssen. Kein Stadtschloß, kein Parlament, sondern eine blecherne Theaterspielmaschine gigantischen Ausmaßes entstand eben auf dem Alten Markt und wird ihn für wenigstens ein halbes Jahrzehnt dominieren. Vielleicht präsentieren uns die Kulissenmaler einmal auch die Stadtschloß-Fassade. Die ungefällige Form bleibt, das ist der Vorteil, sozusagen Material und somit denk- und veränderbar. Obwohl - oder weil - sich diese Lösung um eine Idee wiederum drückt, ist sie vielleicht die realistischste: sie bedeutet, sich sichtbar nicht festzulegen auf eine Zukunft, die nur zu schnell wieder Vergangenheit ist. Das Zukunfts-Defizit des ausgehenden 20. Jahrhunderts findet, zumindest in Potsdams Mitte, seinen ehrlichen Ausdruck in einem Architektur-Defizit. Der Alte Markt bleibe der leere Ort mit viel Platz für Phantasie, die er ja seit wenigstens vier Jahrzehnten beflügelt. Das "Theaterzelt", diese auch gedanklich luftige Konstruktion, stört da nicht. Es ließe sich alle paar Jahre ersetzen oder umfunktionieren: jetzt Theater, später Hotel, Parlament oder - die sarkastische, aber nicht so unwahrscheinliche und von Baustadtrat Detlef Kaminski bereits vorgeschlagene Variante - Obdachenlosenunterkunft für Potsdams expropriierte Einwohner. Was gerade gebraucht wird.
Prekärerweise sind zumindest zwei Ideen, unter die sich Architektur und Stadtgestaltung in diesem Jahrhundert einzuordnen hatte, eng mit totalitären Regimes verknüpft, was das Mißtrauen nicht gerade vermindert. Hitler und sein Leibarchitekt Albert Speer hatten geplant, die brutale Neuordnung der Welt in einer ebenso brutalen architektonischen Neuordnung der Hauptstadt fortzusetzen. Das war schon eine Idee, und ihre Verwirklichung hätte bezeichnenderweise einen kleinen Teil jener Zerstörung erfordert, die von Deutschland ausging und dann zurückkam. Die stalinistischen Magistralen und Volks-Paläste, die später auf den Trümmerwüsten östlich der Elbe entstanden, illustrieren ebenfalls eine Idee, weniger brutal und demagogisch, aber ebenso vereinnahmend und ausschließlich. Schon an der Stadtgestaltung hätte man die Verwandtschaft von Feudalismus und Sozialismus erkennen können. Im Westen lehnte man das alles zu recht ab, hier dominierte lange Zeit ein Funktionalismus, der das Auto zum Wesenspunkt der Stadtentwicklung machte, bis man den Lebenswert historischer Stadtstrukturen wiederentdeckte und sich auf denkmalgerechte Sanierung besann. So fruchtbar das für die Gestalt vieler Innenstädte wurde, so wenig konnte es die fehlende Idee von einer zeitgemäßen Urbanität ersetzen. In Potsdam droht nun das gleiche, zumal der Historizismus die risikoloseste Variante der Stadtgestaltung ist. Es scheint, als ob wir alle verdammt wären, im Museum zu leben, wenn wir uns einigermaßen heimisch fühlen wollen.

Dabei liegt die Idee in Potsdam praktisch auf der Straße. Sie heißt Alexandrowka, sie heißt Holländerviertel und Nowawes. Die Moschee gehört dazu und das Chinesische Teehäuschen und die italienisierende Architektur von Kirchen, Stadthäusern und repräsentativen Wohngebäuden. Wo der Zeitgeschmack, der Bedarf an ausländischen Fachkräften und die philosophischen Gedankenspiele eines Königs den Toleranzgedanken staatsfähig und in der Folge zum Mythos machten - denn ein Mythos ist er, niemals war Potsdam ein Asyl-Land im heutigen Sinne, die Fürsten achteten sehr darauf, was die Neusiedler an Fähigkeiten oder Geld mitbrachten, und als die nicht weniger als die Hugenotten verfolgten Juden sich ansiedeln durften, mußten sie gehörig dafür zahlen - dort sollte es leichter fallen, die Konsequenz hin zu einer wirklichen Toleranz zu ziehen. Der multikulturellen Gesellschaft, auf die wir trotz aller Widerstände von ganz unten wie ganz oben zusteuern, entspricht die multikulturelle und multifunktionale Architektur. Diese hat die individuelle Vielfalt selbst zur Idee und zum Gestaltungsziel. Und es gibt jemanden, der so baut: Friedensreich Hundertwasser.

Zugegeben, die Idee ist provokant, aber das soll sie auch sein.

Ein Hundertwasser-Haus auf dem Alten Markt könnte unter der Großform der Herrschaftsarchitektur die Gestalt gewordene Pluralität der modernen Gesellschaft beherbergen und somit ein "Haus der Kulturen der Welt" auch äußerlich werden. Es sollte Treffpunkt und Refugium vereinen, mit Lesecafé, kleinem Theater und Bibliothek, mit Spielräumen für Kinder, mit Gaststätten und Boutiquen, mit stillen bepflanzten Ecken und betriebsamen Passagen, mit Konzerträumen und Diskos, Nachtbar und nötigenfalls auch Drogenberatungsstelle, um nur einiges zu nennen. Einkaufspassagen und Hotels gehörten ebenso zu der "Stadt in der Stadt" wie ein Museum und Galerien. Statt Bannmeile würde es in Potsdams Mitte einen zusätzlichen Anziehungspunkt für Touristen und Einheimische geben - sicher auch von den Parlamentariern gern besucht, wenn sie von ihrer repräsentativen Arbeitsstätte auf dem Brauhausberg in die Stadt kommen. Die vielgepriesene Toleranz preußischer Fürsten hat es ermöglicht, daß hier mancher "nach seiner Fasson selig werden" konnte - doch sauber getrennt nach Stadtvierteln und Gebäuden. Hundertwassers Idee ist, für die Individualitäten der Bewohner Raum in e i n e m Haus zu lassen, mit dem "Fensterrecht" zum Beispiel. Die lebensfrohe Gestaltungskraft des Wiener Malers, Architekten und Ökologen könnte die zahlreichen kulturellen Einflüsse, die Potsdam prägen, aufnehmen und ergänzen und gleichzeitig ein Pendant zur militärischen Strenge schaffen, wie sie unter anderem auch die Nikolai-Kirche ausstrahlt. "Die gerade Linie ist gottlos", meint Hundertwasser, und darin ist der erklärte Monarchist erfrischend unpreußisch. Architektur mit der Idee der Toleranz, wo könnte sie angebrachter sein als im gerade wiedervereinten Deutschland, und wo besser aufgehoben als in Potsdam?

Herr Hundertwasser, machen Sie uns ein Angebot!

Autor: Ralph Altmann

Erstveröffentlichung in der dritten und letzten Ausgabe der Zeitschrift
Potsdam Heute,
Ende 1992

© Ralph Altmann

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